Neu erschienen ist ein Sammelband mit Erzählungen, herausgegeben von Katharina Tiwald “BEHAUST. Menschen unter Dach im Burgenland” (Edition Marlit, 2016. Beitragsfoto: Buchcover unter Verwendung eines Kunstwerks von Monsieur Le Flash) mit Beiträgen von Klaus Jürgen Bauer, Manfred Chobot, Christl Greller, Wolfgang Millendorfer, Beatrice Simonsen, Susanne Toth u.v.a.
Notwendigkeit, Kokon und zweite Haut: das alles sind Häuser und Wohnungen, Geschichtenspeicher obendrein. Außerdem formen sie die Landschaft einer Gegend in fast ebenso großem Ausmaß wie die Natur – und sind doch auch den Moden der Zeit verhaftet.
Der Sammelband spürt in Texten heimischer AutorInnen den Verhältnissen zwischen Häusern und ihren Bewohnern nach: eine Einladung dazu, das scheinbar Gegebene mit neuen Augen zu betrachten.
Ausschnitt aus dem Text von Beatrice Simonsen “Die hellen und die dunklen Zimmer”:
1989 fiel der Eiserne Vorhang. Nur ein halbes Jahrhundert hatte die Epoche der Abschottung an der Grenze zwischen Österreich und Ungarn gedauert und doch: wie folgenreich war sie für die Menschen gewesen. Heute ist die Sackgasse wieder durchlässig. Auf der Landstraße windet sich in endlosen Schlangen der Verkehr durch die enge Schlucht der ehemaligen Fabriksgebäude. Die geplante Umfahrung, eine Autobahn als Anschluss an den Verkehrsweg Richtung Ungarn, wurde bis jetzt nicht umgesetzt. Die Fabrik steht wie ein beschädigtes Denkmal in der Landschaft. Auf Youtube finde ich Bilder der Ruine mit schwungvoller Musik unterlegt. Der Fotograf ist von dem „Lost place“ begeistert und dringt mit seiner Kamera immer tiefer ins Innere der verwahrlosten Gebäude vor. „Mein Opa hat hier gearbeitet“, schreibt er. Dazu das lapidare Posting eines anderen: „Mein Opa hieß Conrad Patzenhofer“. Die nächste Generation wirft Blicke in die verlassenen Zimmer der Geschichte. Der eine leuchtet sie aus, der andere schließt die Tür. Der Wind der Zeit treibt Bilder von Licht und Schatten vor sich her.
Vögel picken Löcher in die mit Styropor verkleideten Silos. Turmfalken schweben im Aufwind. Hoch oben auf dem Dach sammeln sich Störche zum Abflug. Die Wände der Silos tragen Werbeplakate für eine Welt der Schönheit: Permanent Make-up, Solarium, Kunstnägel, Friseur, Massage, Maniküre, Pediküre. Ein Versprechen für die Frau. Was dem Mann versprochen wird, lesen wir nicht. Der Flohmarkt vor den Toren von Diskontern und Club-Bars mit grenzüberschreitendem Publikum ufert aus. Eine Ungarin breitet im Kofferraum ihres Autos ein paar Schuhe und Handtaschen zum Verkauf aus. Eine Roma dreht sich lachend und lässt ihren knallgrünen Rock fliegen. Die Händler aus Niederösterreich haben reichlich Ware aus dem untersten Preissegment. Auf der anderen Straßenseite wirbt ein Night Club, daneben der Security Service. An den Rändern der Landstraße wuchern Tankstellen neben Erdbeerfeldern. Die Annasäule an der Kreuzung Richtung Siegendorf „Tabernakelpfeiler mit plastischer Gruppe hl. Anna mit Engeln, bez. ER / 1670 / REN: 1956 / 1714 / F.D.Z. / 1698“ ist dem Kreisverkehr gewichen. Ein Schäferhund rast kläffend entlang dem Zaun vor abgewrackten Autos. Die stillgelegten Gebäude liegen da wie ein abgenagtes Gerippe. „Achtung! Videoüberwachung! Nichtberechtigten ist der Zutritt verboten! Eltern haften für Ihre (sic!) Kinder! Die Nichtbeachtung dieses Hinweises führt ausnahmslos zur Anzeige wegen Besitzstörung!“ Die Ausweidung hat eingestürzte Dächer, zersplitterte Fenster und eingetretene Türen hinterlassen. Die Ziegelmauern bröckeln, Schuttberge türmen sich. Die neueren Ytong- und Betonteile halten stand, nicht aber die Ästhetik der 1960er Jahre im Vergleich zur Harmonie der Jahrhundertwende. Zwischen den Ruinen wuselt es. In der Gewerbezone werden Geschäfte gemacht. Autos mit ungarischen und österreichischen Kennzeichen parken vor den meist notdürftig renovierten Gebäuden. Plakate und Firmenschilder weisen Kleingewerbe aus, geboten werden Autoreifen, Autoglas, Autos, Elektrotechnik, Software, Babyartikel, Kosmetika, Bauholz, Brennholz, Fliesen, Natursteine, Grabsteine und Handel mit nicht näher ausgewiesenen Waren. Eine Organisation rettet das Kind und eine freie christliche Gemeinschaft alle. Moderne Großunternehmen für Gummiteile, Elektronik und Mechanik bieten Arbeitsplätze. Von zwei Seiten wachsen Einfamilienhäuser den Abstand zwischen der Fabriksruine und den umliegenden Dörfern zu. Richtung Grenze lugen Windräder über die Baumwipfel des Waldes. Die Grenze ist offen. Die Welt ist rund. Sie dreht sich.
Die Direktorsvilla wird von einer Lärmschutzwand gegen den strömenden Verkehr abgeschirmt. Die Wand trägt blaue Augen. Dichte Sträucher wehren das Hereinwuchern der Gewerbezone ab. Das Haus meiner Kindheit ist wie damals eine Insel. Statt der rumorenden Fabrik brandet nun der Lärm des geschäftigen An- und Abfahrens der Handelstreibenden an das Haus. Die Wellen nach Osten schwappen zurück in den Westen. Das Haus unsinkbar. Immer noch beschirmt von der mächtigen Platane. Immer noch das raue Krächzen der Krähen, das aufwühlende Gurren der Tauben, der Ruf des Käuzchens bei Nacht, der trillernde Gesang der Nachtigallen, die sanfte Verführung des Pirols.
© Beatrice Simonsen